Restrukturierung des Gesundheitssystems: Umdenken statt umstellen

  • Umdenken statt umstellen

Was genau muss passieren, um auch in Zukunft flächendeckend eine gute medizinische Versorgung bieten zu können? Reicht es, an den Stellschrauben der bestehenden stationären und ambulanten Versorgung zu drehen? Eher nicht, meint Prof. Dr. Dirk Sauerland, Dekan der Fakultät für Wirtschaft und Gesellschaft der Universität Witten/Herdecke. Das Spezialgebiet des Volkswirtes sind die Institutionsökonomik (also die Untersuchung und Gestaltung von Anreizsystemen) und die Gesundheitspolitik, momentan beschäftigen ihn Evaluationen neuer Versorgungsformen.
Sein Fazit mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen im Gesundheitswesen: Versorgung muss grundsätzlich neu gedacht, nicht nur angepasst werden. Im Interview mit VIEW erläutert er warum. Und vor allem: Inwiefern.

Herr Prof. Sauerland: Privatisierung, Ambulantisierung, Kettenbildung: Diese Schlagworte klingen nach disruptiven Veränderungen im Gesundheitswesen. Sind sie das wirklich?

Prof. Dr. Dirk Sauerland: Ich denke, dass diese Buzzwords nur die Spitze eines Eisbergs sind und wir noch viel tiefgreifendere Veränderungen benötigen. Nehmen wir nur die Privatisierung bzw. den Aufkauf von Praxen durch Investoren und große Ketten. Dass diese überhaupt in Nachfolgen von Praxen zum Zug kommen, liegt daran, dass niedergelassene Praxiseigentümer, die in den Ruhestand gehen wollen, heute nur noch schwer Kaufinteressenten finden. Bisher war das kein Problem, der Praxisverkauf an die jüngere Generation war als Teil der Absicherung nach dem Ausscheiden aus der Praxis eingeplant. Nun haben sich aber die Bedürfnisse der jungen Medizinerinnen und Mediziner verändert. Jetzt ist es aber so, dass immer weniger Medizinerinnen und Mediziner den finanziellen und zeitlichen Aufwand einer eigenen Praxis in Kauf nehmen wollen. Für die jetzt ausscheidenden Ärzte wird es also schwierig, die Praxis an Nachfolger zu übergeben, die in die alten Strukturen einsteigen wollen, und finanziell davon zu profitieren. So erklären sich auch die 5.000 bis 7.000 offenen Stellen im niedergelassenen Bereich. Klar gibt es immer noch überversorgte Regionen. Denen steht aber eine größer werdende Zahl unterversorgter Regionen gegenüber.

Um eine gute hausärztliche Versorgung weiterhin zu gewährleisten, braucht es gänzlich neue Konzepte. Wir müssen unsere Energie nicht daransetzen, bestehende Strukturen zu erhalten. Wir sollten die Strukturen an die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten, aber auch der Leistungserbringenden anpassen.

Wie könnte das aussehen?

Prof. Dr. Dirk Sauerland: Die hausärztliche Versorgung muss bereits bei der Stadtplanung mitgedacht werden. Die Kommunen müssen schon bei der Quartiersentwicklung berücksichtigen, wo welche Ärztinnen und Ärzte nötig sind. Daran schließt sich die wirklich wichtige Frage an, in welchen Organisationsformen wir die notwendigen Versorgungsstrukturen abbilden wollen. Wenn wir wissen, dass es für junge Menschen nicht mehr attraktiv ist, das finanzielle Risiko und das zeitliche Engagement, das mit einer eigenen Praxis einhergeht, einzugehen, brauchen wir neue Organisationsformen. 

MVZ sind eine mögliche Alternative für veränderte Arbeitsmodelle. Bei der Frage, wer denn künftig Träger eines MVZ sein sollte, sollten auch hier die Kommunen stärker in die Verantwortung genommen werden. Die Rechtsform der Genossenschaft, an der die Kommunen beteiligt ist, könnte eine Möglichkeit sein, um die Versorgung nachhaltig sicherzustellen. Im Wohnungsbau sind Genossenschaften erfolgreiche private Organisationen, um Risiken auf viele Schultern zu verteilen und nachhaltig zu wirtschaften. Warum also nicht auch im Gesundheitswesen? 
Als Ökonom stehe ich der Privatisierung nicht kritisch gegenüber; bisher sind die Praxen ja auch schon in privatem Eigentum. Aber es geht um die Wahl von Organisationsformen, die nachhaltig arbeiten – und nicht primär auf den Return on Investment schauen. 

Prof. Dr. Dirk Sauerland - Universität Witten/Herdecke
"Die hausärztliche Versorgung muss bereits bei der Stadtplanung mitgedacht werden."

Prof. Dr. Dirk Sauerland

Inhaber des Lehrstuhls für Institutionenökonomik und Gesundheitspolitik an der Universität Witten/Herdecke

Solche neuen Konzepte könnten hilfreich sein, um das Ziel einer stärkeren Ambulantisierung, das in der Krankenhausreform angelegt ist, zu erreichen.

Prof. Dr. Dirk Sauerland: Ja, und diese Ambulantisierung brauchen wir dringend. In Deutschland haben wir im internationalen Vergleich sehr viele Krankenhausfälle. Das verwundert nicht, da wir auch eine sehr hohe Bettendichte pro 1.000 Einwohner haben. Es zeigt sich aber, dass die Qualität der Versorgung dadurch nicht besser ist. Eine aktuelle Studie im New England Journal of Medicine belegt dies für Hüft-OPs: Während in den USA nur ein Krankenhaustag anfällt, dafür aber eine stärkere und stringentere ambulante Vor- und Nachsorge zu Hause erfolgt, verbringen Menschen nach einer Hüft-OP in Deutschland etwa zehn Tage im Krankenhaus und 230 Tage in der Reha. Nach allen Daten, die in der Studie veröffentlicht wurden, zeigen sich in der Qualität der Versorgung hingegen keine Unterschiede. Leistungserbringer in den USA haben bessere Anreize, nachhaltige Versorgungslösungen anzubieten.

Haben wir aktuell denn die ambulanten Strukturen für ein solches Konzept?

Prof. Dr. Dirk Sauerland: Nein, und das ist mein Hauptpunkt. Wir können nicht einfach neue Konzepte auf der Basis bestehender Strukturen implementieren. Der Punkt ist, dass wir das Gesundheitssystem, wie schon lange gefordert, neu denken müssen. Dazu gehört die Aufhebung der strikten Trennung bei der Abrechnung von ambulanten und stationären Leistungen. Unser aktuelles System ist ja gar nicht darauf ausgelegt, dass es sinnvolle Übergänge gibt, weil sich diese in den Abrechnungslogiken der getrennten Sektoren nicht widerspiegeln. Die aktuelle Studie aus den USA zeigt, dass z. B. Pauschalen für Leistungserbringende weiter gesteckt werden und auch die ambulante Vor- und Nachsorge berücksichtigen müssen.

Dafür wiederum ist es wichtig zu schauen, wie eine Versorgung vor Ort organisiert wird. Ich kann mir vorstellen, wie gesagt, dass die ambulante Versorgung stärker auf Stadtteile und Bedarfsstrukturen abgestellt wird. Abgesehen von unserem Wettbewerbsrecht: Was spricht dagegen, für einen Stadtteil im Rahmen einer Ausschreibung einen einzigen Pflegedienstleistenden zu ermitteln? Dieser hätte dann kürzere Wege, feste Routen, mehr Bezug zu den Menschen. Die Stadt schreibt auch die Schulbezirke aus. Warum nicht auch Pflegebezirke?

Ist das nicht etwas radikal?

Prof. Dr. Dirk Sauerland: Ich würde ein solches Projekt gerne einmal wissenschaftlich unter die Lupe nehmen. Wenn wir uns nicht trauen, die Themen grundsätzlich neu zu denken, dann werden wir keine Transformation erreichen, sondern neue Gesetze auf unpassende Strukturen setzen.

Was bedeuten solche Wandel für die Patientinnen und Patienten und welche Rolle spielt die Digitalisierung dabei?

Prof. Dr. Dirk Sauerland: Die Digitalisierung spielt natürlich eine große Rolle. Vergleichbar zu skandinavischen Ländern brauchen wir eine zentrale Datenstelle, auf die alle Versorger zugreifen können. Das ist gerade für die deutsche Bevölkerung eine große Herausforderung in Sachen Datenschutz. Und die Industrie muss entsprechende Standardschnittstellen bereitstellen, damit unterschiedliche Systeme auf diesen Datenpool zugreifen können. 

Verändern sich Versorgungsstrukturen, ist das vor allem für die älteren Patientinnen und Patienten schwierig. Für jüngere Menschen wird es einfacher sein. Wir können das mit der Entwicklung des Bankings vergleichen: Während ältere Menschen ihr Geld immer noch in der Filiale abheben, haben viele junge Menschen noch nie eine Bankfiliale von innen gesehen. Denen können wir leichter vermitteln, dass künftig zum Beispiel eine Community Nurse am Gesundheitskiosk der Gatekeeper für den Versorgungspfad ist, vergleichbar zu skandinavischen Strukturen. Und, dass nicht jedes Krankenhaus alle medizinischen Leistungen anbietet – aber im Bedarfsfall ein gutes Krankenhaus gut erreichbar ist.

Noch so ein heikles Thema: Die Sorge, dass die Versorgung schlechter wird bei einer Schließung von Abteilungen oder Häusern, ist ja sehr groß.

Prof. Dr. Dirk Sauerland: Wenn man solche Schließungen auf Basis eines Bedarfsplans vornimmt, wie es ja in der neuen Krankenhausplanung NRW vorgesehen ist, zu Unrecht. In Australien ist die Krankenhausdichte in der Fläche auch nicht so groß, trotzdem werden die Menschen dort sehr gut versorgt. Viele Krankenhäuser, gerade in den Ballungsräumen, sind sogenannte Bürgermeister-Denkmäler und für die medizinische Versorgung in der Region durchaus entbehrlich. Heute ist es ja so, dass wir eine kalte Bettenrationierung haben, weil die Anforderungen an den Krankenhausbetrieb zum Teil gar nicht mehr erfüllt werden können. Drei Fachärzte pro Station und die bestehenden Pflegepersonaluntergrenzen stellen für viele Krankenhäuser eine unüberwindbare Hürde dar, weil es schlicht das Personal nicht gibt, um diese Vorgaben zu erreichen. Reden wir doch bitte offen über die Probleme der veränderten Demographie mit immer weniger Personal bei gleichzeitig immer mehr Versorgungsfällen und suchen wir nach guten Lösungen. Damit ist allen geholfen, vor allem den Patientinnen und Patienten.

Vielen Dank für das Gespräch.


 

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Veränderung will gelernt sein

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Mit der Zeit zu gehen bedeutet nicht, jedem Trend hinterherzulaufen. Diese Unterscheidung ist wichtig. Denn sie zieht die Linie zwischen solchen Unternehmen, die stabile, verlässliche Lösungen für langfristige Partnerschaften entwickeln wollen, und solchen, die lediglich auf die sogenannten Quickwins aus sind. Und die ihre Produktstrategie an Management-Buzzwords und potenziellen Fördergeldern ausrichten anstatt an der Steigerung der medizinischen Versorgungsqualität und der Entlastung der Akteure im Gesundheitswesen – inklusive der Patientinnen und Patienten. 

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Welche Chancen und Risiken die Akteure des Gesundheitswesens in den aktuellen und geplanten Veränderungen sehen, hängt stark davon ab, durch welche Brille sie auf die Welt blicken: Durch die des Inhabers einer radiologischen Praxis, die des IT-Leiters eines Klinikverbundes oder einer Praxiskette oder durch die des Radiologen im Klinikbetrieb. Darum ist es so wichtig, unterschiedliche Stimmen einzufangen, um einen Überblick über die Gesamtlage und -stimmung zu bekommen.