Raus aus dem Datendilemma

  • Gute Daten - schlechte Daten

Je mehr Daten, desto besser die Therapieentscheidung und desto erfolgreicher die Behandlung. Klingt theoretisch gut. Findet aber praktisch kaum statt. Zumindest nicht ohne Weiteres. Denn – und darüber reden Gesundheitseinrichtungen nicht so gerne – viele medizinische Daten, die jetzt in die Krankenhäuser rauschen, haben keinen zusätzlichen Nutzen. Schlimmstenfalls schaden sie sogar. Wie das sein kann? Ganz einfach: Daten an sich haben keinen Wert. Sie müssen erst wertvoll gemacht werden. 

Um eines klarzustellen: Die Digitalisierung und Verfügbarkeit digitaler medizinischer Informationen ist ein unverzichtbarer Schritt auf dem Weg hin zu einer qualitativ hochwertigen und gleichzeitig bezahlbaren Medizin. Wir brauchen digitale medizinische Daten, um auch künftig eine gute Versorgung anzubieten. Aktuell befinden sich Gesundheitseinrichtungen aber in einer noch nicht ganz ausgereiften Übergangssituation, in der Daten zwar vermehrt vorhanden, aber nicht unbedingt sicher oder nützlich sind. 

Der Fall Bernd Bochum und seine digitalen Daten

Um das Problem möglichst konkret zu umreißen, soll hier der in nicht allzu ferner Zukunft spielende Fall des Patienten Bernd Bochum und seiner verengten Herzkranzgefäße skizziert werden. Bernd Bochum gehört zu den digitalen Vorreitern und legt Wert darauf, möglichst viele Daten digital in seine Behandlung einfließen zu lassen. Darum verfügt er über eine digitale Patientenakte, konsultiert Ärztinnen und Ärzte, die in telemedizinischen Netzwerken aktiv sind, und sammelt selbst digitale Gesundheitsdaten, etwa seinen Blutdruck betreffend. 

Bei der Aufnahme auf die kardiologische Station im Krankenhaus seiner Wahl liegen darum auch schon etliche Informationen digital vor: Sein Kardiologe hat radiologische Aufnahmen in das PACS der Klinik eingestellt und Laborwerte per Mail geschickt. Bernd Bochum hat von einer früheren Katheterbehandlung noch die Linksherzkatheter-Filme auf einem Datenträger, den er ebenfalls mitbringt. Seine Hausärztin hat vor der Einweisung ins Krankenhaus noch einmal ein EKG erstellt, auch diese Daten liegen digital vor. Einige Befunde hat er noch auf Papier und nicht zuletzt gibt es da noch die medizinischen Daten in der elektronischen Patientenakte (ePA) seiner Krankenkasse. Die möchte Bernd Bochum natürlich zur Verfügung stellen – allerdings nicht vollständig. Alles rund um seine psychologische Erkrankung möchte er für sich behalten. 

Die Verantwortung für die Datenvollständigkeit

Für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte im Krankenhaus ist diese Datenvielfalt nicht immer eine Bereicherung, sondern sorgt eher für Frust. Woher sollen sie wissen, dass zum Beispiel radiologische Aufnahmen im PACS liegen? Dürfen sie den Datenträger mit dem Katheterfilm einlesen? Von wann sind die EKG-Daten? Und wie hoch ist die Aussagekraft der Laborwerte, wenn sie sich nicht sicher sein können, alle therapierelevanten (Medikations-)Informationen aus der ePA vorliegen zu haben? 

Statt Erleichterung und Zeitersparnis stehen die Behandelnden also zusätzlich vor der Verantwortung, alle potenziell therapierelevanten Informationen – aus dem eigenen Haus und externe – zusammenzusuchen. Was passiert, wenn sie dabei etwas übersehen, ist heute noch gar nicht so genau definiert. Auch, dass Bernd Bochum nicht alle Daten seiner ePA freigibt, stellt für die Ärztinnen und Ärzte ein Problem dar, weil sie gar nicht wissen, ob Informationen fehlen, und wenn ja, welche das sind. In der Konsequenz werden möglicherweise Untersuchungen erneut angeordnet, um auf Nummer sicher zu gehen. Dass durch die Digitalisierung und Datenverfügbarkeit Doppeluntersuchungen vermieden werden, dürfte also auch nur bedingt stimmen. Im Falle der fehlenden Informationen zu Bernds psychischer Erkrankung können im Katheterlabor sogar medikationsbedingte Komplikationen auftreten. Verantwortungsstatus: ungeklärt.

Was ist wichtig? Das Problem der Datenvalidität

Neben der Datenvollständigkeit kann mangelnde Datenvalidität zum Problem im Behandlungsprozess werden. Die Validität beschreibt bekanntlich die Güte, die Qualität und damit die Aussagekraft der Daten. Warum diese zum Problem werden kann, zeigt folgendes Beispiel: Auf den ersten Blick scheint es für die Ärztinnen und Ärzte sinnvoll, dass von Bernd Bochum bereits EKGs der Hausärztin vorliegen. Erst auf den zweiten Blick wird sichtbar, dass das letzte EKG vor zehn Tagen erstellt wurde und die Aussagekraft für die aktuelle Bewertung daher gering ist. Auch hier stellt sich die Frage, ob es für Ärztinnen und Ärzte zumutbar ist, sich diese Informationen selbst herauszusuchen. Schließlich geht das mit einem erheblichen Mehraufwand einher, berücksichtigt man die Menge an Patientinnen und Patienten, Behandlungen und Daten. 

Einbußen in Sachen Validität können auch aufgrund methodisch-technischer Fehler entstehen, zum Beispiel bei der Erstellung von radiologischen Daten und besonders bei Ultraschalluntersuchungen. Bei der zunehmenden Berücksichtigung von externen Daten – sei es von den Patientinnen und Patienten selbst oder nicht-medizinischen Einrichtungen – stellt sich zudem die Frage, wie gut die verwendete Technik und deren Anwendung ist. Das gilt zum Beispiel bei selbst erhobenen Blutdruck- oder Pulswerten. Ob die Blutdruckwerte, die Bernds Pflegekraft daheim täglich gemessen hat, therapierelevant sind, ist schwierig zu beurteilen. Über das Messinstrument, die Fähigkeit der Pflegekraft und die Umstände der Messung ist schließlich nichts gesichert bekannt. Wer soll nun entscheiden, ob sie trotzdem berücksichtigt werden?

Eine Frage der Haftung: Datensicherheit und Datenschutz

Ein besonders heikles Thema für Behandelnde und Behandelte kann die Haftung im Falle einer unbeabsichtigten Einschleusung von zum Beispiel Ransomware darstellen – sei es über einen externen Datenträger oder auch die ePA. Was geschieht also, wenn Bernd Bochum durch die Übertragung seiner Daten aus der ePA das Krankenhaus seiner Wahl dem feindlichen Angriff von außen aussetzt? Erste Diskussionen zu diesem Thema finden schon statt und zumindest Kliniken stellen sich die Frage der Datensicherheit mit Blick auf ePA-Daten, die ins Haus laufen. 
Wie realistisch ein etwaiges Haftungsrisiko für Patientinnen und Patienten ist, sei dahingestellt. Die Debatte darum lenkt den Blick jedenfalls auf ein bisher ungelöstes Problem, auf das es heute noch keine Antwort gibt.
Und schließlich sehen sich die Behandelnden von Bernd Bochum und anderen mit dem – sehr berechtigen – Datenschutzinteresse konfrontiert. Der Zugriff auf die unterschiedlichen Datenquellen ist zumeist mit unterschiedlichen Schutzvorrichtungen wie Passwörtern und Mandantenfähigkeit verbunden. Im klinischen Alltag können diese Schutzmechanismen den Zugriff auf alle verfügbaren Daten be- oder sogar verhindern. Hier gilt es also, einen guten Kompromiss zwischen Datenschutz und positivem Nutzererlebnis zu schaffen. 

Wer sorgt für gute Daten?

Nicht alle der aktuellen Probleme rund um die Datenvielfalt lassen sich auf einen Streich lösen – aber doch einige. Allerdings stellt sich in der Praxis auch immer die Frage, wer für saubere Daten sorgen soll. Ist es schon die Arztpraxis? Sind es die Versicherungen? Oder sind es die Krankenhäuser als Ort, an dem sehr viele Informationen zusammenlaufen? 

Tatsächlich ist es für Krankenhäuser am sinnvollsten, die Arbeit auf sich zu nehmen und Ordnung in die Daten zu bringen. Denn letztlich zahlt diese Bemühung auf die Effizienz, die Behandlungsqualität und die Zufriedenheit der Mitarbeitenden ein. Anknüpfungspunkte, um aus schlechten Daten gute Daten zu machen, gibt es für Krankenhäuser einige. Das fängt bei der Konsolidierung aller Daten innerhalb eines Systems und der Ansicht über einen gemeinsamen Viewer an, geht über die Sortierung der Daten über die Vergabe von Metadaten und einer Strukturierung der Daten entsprechend ihrer Verwendung bis hin zur Kommunikation der Daten über sichere Wege, zum Beispiel über externe Server.

Entscheidend ist, dass die Probleme der Datenvielfalt endlich offen kommuniziert werden und in diesem Zusammenhang auch über effektive Lösungswege gesprochen wird.