Die Rolle der Radiologie
Dass die medizinische Versorgungslandschaft vor tiefgreifenden Veränderungen steht, weiß und spürt die Radiologie längst. Schließlich nahmen transformationsauslösende Entwicklungen wie der Einsatz von Künstlicher Intelligenz oder der Trend zur Verbundbildung von Praxen in der Radiologie ihren Anfang. Welche Chancen sich daraus für die gesamte Disziplin ergeben und welche Rolle die Radiologinnen und Radiologen in künftigen Versorgungsszenarien einnehmen sollten, darüber diskutieren Fachleute intensiv. Zum Beispiel auf dem Deutschen Röntgenkongress 2024, der unter dem Motto „Radiologie in Transformation – Information, Kommunikation & Präzision“ steht.
Kongresspräsident Prof. Dr. Johannes Wessling, Chefarzt und Leiter des radiologischen Zentrums im Clemenshospital und in der Raphaelsklinik in Münster, verrät in VIEW vorab, was das Fach bewegt und was für den „Röko“ 2024 geplant ist.
2024 wird der Röntgenkongress gemeinsam mit der Österreichischen Gesellschaft ausgerichtet, als zweiter Kongresspräsident steht Ihnen Prof. Dr. Thomas Helbich, stellvertretender Leiter der Universitätsklinik für Radiologie und Nuklearmedizin in Wien, zur Seite. Welche Themen haben Sie sich gemeinsam auf die Fahne geschrieben?
Prof. Dr. Johannes Wessling: Die aktuellen und absehbaren Entwicklungen in der Medizin – Einsatz von Künstlicher Intelligenz, Krankenhausreform, Ambulantisierung von Leistungen und Verbundbildung im niedergelassenen Bereich – setzen den Rahmen und beschäftigen uns natürlich sehr. Aber auch die Tatsache, dass sich die Radiologie zusehends von der reinen Bildbetrachtung löst. Die Integration von klinischen Informationen, von Daten aus der Molekulargenetik oder der Labordiagnostik, wird in einer personalisierten Medizin immer wichtiger. Von Radiologinnen und Radiologen wird zunehmend eine holistische Betrachtung und Präsentation erwartet, die durch Integration dieser Daten möglichst dem individuellen Patienten gerecht werden soll. Bild- und Informationsexpertise rückt die Radiologie in eine sehr zentrale Position innerhalb klinischer Prozesse. „Value based imaging“ heißt hier für uns, dass wir diese Prozesse um unsere Patienten herum sehr effizient gestalten und unsere Rolle fortwährend nachadjustieren müssen. Ich sehe uns hier durchaus als Lotsen innerhalb des gesamten Transformationsprozesses. Auch und gerade weil die Radiologie als Vorreiter über große Erfahrung mit der Digitalisierung in der Medizin verfügt.
Gehen wir die einzelnen Punkte einmal im Detail durch: Inwiefern ändert sich die Rolle der Radiologie mit Blick auf die Ambulantisierung, die durch die geplante Krankenhausreform vermutlich forciert wird?
Johannes Wessling: Hier sehe ich für die Radiologie die große Chance, die therapeutische Seite unseres Faches, die wir ohnehin schon lange in guter Breite und mit hoher Expertise abdecken, in den Vordergrund zu stellen. Wir sind in vielen minimal invasiven interventionellen Bereichen zu Hause – wie zum Beispiel Gefäß- und Tumorinterventionen sowie urologische, gynäkologische und pädiatrische Interventionen. In der medizinischen Notfallversorgung ist beispielsweise die interventionelle Schlaganfalltherapie überhaupt nicht mehr wegzudenken und hat hier ein Alleinstellungsmerkmal in der Erstbehandlung durch Neuroradiologen. In der Öffentlichkeit wird das bisher nur unzureichend wahrgenommen. In vielen Fällen lässt sich darüber hinaus rechtfertigen, dass Patientinnen und Patienten nach einer Intervention noch am selben Tag nach Hause können, was ganz im Sinne der Patienten und der neuen Strukturpläne ist. Hier bietet die Radiologie riesige Potenziale, die den Krankenhäusern neue Erlösperspektiven und uns eine neue Wahrnehmung eröffnen können.
Radiologie ist Diagnostik und Therapie. Aber wir müssen über die Chancen besser informieren und kommunizieren – zwei Aufgaben, die generell für unser Fach gelten und darum im Untertitel des nächsten Kongressprogramms verankert sind.
Spinnen wir diesen Gedanken weiter: Fordern Sie dann künftig auch eigene, abrechenbare Betten für die Radiologie?
Johannes Wessling: Im Moment ist es häufig so, dass wir in der Radiologie Interventionen durchführen und Patienten anschließend in andere bettenführende Abteilungen verlegt und dort abgerechnet werden, während die Kosten in der Radiologie verbleiben. Wir haben auch nur bedingt einen Einfluss auf die Liegezeiten. Wenn eine stärkere ambulante Versorgung gefördert werden soll, dann müssen wir auch bei der „Bettenpolitik“ neue Wege gehen. Gerade da, wo mehrere Fachgruppen solche Leistungen erbringen und eine interdisziplinäre organbezogene Zusammenarbeit geboten ist, liegt die Zukunft der Krankenhäuser in gemeinsamen Bettenstationen, die flexibel je nach Bedarf Betten den einzelnen operativen, interventionellen und konservativen Fachgruppen zuordnen. Weg vom Einzelspezialisten hin zu interdisziplinären Spezialistenteams mit Vorhaltung der verschiedenen Kernkompetenzen unter einem Dach. Hier muss der interventionelle Arm der Radiologie als gleichberechtigter Partner agieren. Zukünftig und mit Blick auf die Ambulantisierung wird sicherlich auch das Thema „Tagesbetten“ für Interventionen eine Rolle spielen müssen.
"Neue Wege bei der „Bettenpolitik“."
Kongresspräsident Prof. Dr. Johannes Wessling
Chefarzt und Leiter des radiologischen Zentrums im Clemenshospital und in der Raphaelsklinik in Münster
Sie sprachen auch von einer Lotsenfunktion. Beziehen Sie diese auf interne medizinische Prozesse oder auf die Kommunikation mit den Patientinnen und Patienten?
Johannes Wessling: Beides. Prozessoptimierung aus Patientensicht heißt sicherlich schneller Zugang zur richtigen und aussagefähigen Bildgebung. Wir müssen entlang dieser Prozesskette beständig Faktoren wie Qualität, Effizienz, Sicherheit und Kosten optimieren. Wir sind ja längst keine Bilddoktoren mehr, die im dunklen Keller auf Monitore starren und kryptische Formulierungen in Diktiergeräte sprechen. Als sprechende Radiologie spielen wir schon heute eine zentrale Rolle innerhalb der klinischen Prozesse, sind Ansprechpartner für nahezu alle klinischen Disziplinen und bringen diese zusammen. Bei uns werden zum Beispiel über 50 Konferenzen pro Woche von Radiologen moderiert und hier intensiv mit Kollegen anderer Disziplinen diskutiert. Diese Form einer kommunikativen, sprechenden Radiologie erfüllt im Krankenhaus inzwischen eine wichtige „Marktplatz“ Funktion.
Klinische Radiologie heißt aber auch, dass wir uns um unsere Patienten kümmern. Wir haben den Anspruch, mit den Patienten ins Gespräch zu kommen, Bilder und Befunde zu erklären, Ängsten und Sorgen zu begegnen, aber auch als Lotse für den weiteren Behandlungsweg zu fungieren. Wir können das, weil wir über Abteilungsgrenzen hinweg agieren. Der Einsatz von KI und die dadurch gewonnene Zeit verschaffen uns hierfür zunehmend mehr Möglichkeiten. Übrigens wird diese Rolle auch von Patienten gewünscht und eingefordert.
Diskutieren Sie solche Entwicklungen auch auf dem Kongress?
Johannes Wessling: Unter den Schlagwörtern Kommunikation, Information und Präzision auf jeden Fall. Zudem ist Berufspolitik ein extrem wichtiges Themenfeld – auch abseits des Kongresses. Hier haben wir in den vergangenen Jahren als Fachgesellschaft die Strukturen konsequent weiterentwickelt und uns in diversen Themenbereichen positioniert. Mit Blick auf den Kongress ist uns wichtig, dass wir die relevanten Themen nicht nur in einem engen ärztlichen Zirkel besprechen. Radiologie vereint ein buntes Spektrum von Berufsrichtungen: medizinische Technologen, Medizinphysiker, IT-Experten, Industriepartner, Entwickler. Transformation der Radiologie gelingt dann, wenn wir die relevanten Themen gemeinsam diskutieren und voranbringen. Darum haben wir u. a. Diskussionsforen auch in die Ausstellungshallen gebracht, um eine breite Kongressöffentlichkeit in die Diskurse miteinzubeziehen. Diese Formate haben gut funktioniert und wir werden sie weiterentwickeln.
Auf welche Neuerungen dürfen sich die Besucher nächstes Jahr freuen?
Johannes Wessling: Das hybride Konzept mit einer erlebnisreichen Präsenzphase und begleitendem Onlineprogramm wird außerordentlich gut angenommen – sowohl vor Ort in Wiesbaden als auch in den Websessions. Daran werden wir festhalten. Ein Fokus wird auch auf der stärkeren kommunikativen Verknüpfung von Industrie und Radiologie liegen. Um die künftigen Herausforderungen zu meistern, brauchen wir einen stärkeren Schulterschluss und den Dialog. Nicht nur mit Blick auf die weitere Entwicklung von KI. Die strukturellen Änderungen, mit denen wir uns konfrontiert sehen, verlangen auch nach innovativen IT- und Datenmanagement-Konzepten. Hier müssen wir Bedarf und Bedürfnisse formulieren und gegenseitig Input für gute Lösungen geben.
Wie sieht es mit den jungen Radiologinnen und Radiologen aus?
Johannes Wessling: Innerhalb der deutschen Röntgengesellschaft mit ihren über 11.000 Mitgliedern spielen die jungen Kolleginnen und Kollegen eine so wichtige Rolle wie nie zuvor. Das Forum Junge Radiologie hat inzwischen über 2.000 Mitglieder und ist auch im Vorstand der DRG vertreten. Ich bin begeistert von der Dynamik, die dadurch in vielen Themenbereichen entsteht und freue mich schon darauf, dass die Präsidentschaft des Kongresses 2026 erstmalig aus einem Dreigestirn jüngerer Kolleginnen und Kollegen bestehen wird.