Gesundheitswesen: Veränderungen sind Tagesgeschäft

  • Veränderungen sind Tagesgeschäft

Welche Chancen und Risiken die Akteure des Gesundheitswesens in den aktuellen und geplanten Veränderungen sehen, hängt stark davon ab, durch welche Brille sie auf die Welt blicken: Durch die des Inhabers einer radiologischen Praxis, die des IT-Leiters eines Klinikverbundes oder einer Praxiskette oder durch die des Radiologen im Klinikbetrieb. Darum ist es so wichtig, unterschiedliche Stimmen einzufangen, um einen Überblick über die Gesamtlage und -stimmung zu bekommen. Und genau das haben wir für die aktuelle Ausgabe der VIEW gemacht. Und so unterschiedlich die Schwerpunkte, Meinungen und Herausforderungen der Befragten auch waren, so einig waren sich alle über eins: Veränderungen gehören zum Tagesgeschäft in der Medizin. Und der Schlüssel für viele Herausforderungen liegt in der IT.

Alexander Klemm - IT-Leiter Lifelink Medical GmbH
"Digitale Vernetzung schafft Patientenkomfort."

Alexander Klemm

IT-Leiter Lifelink Medical GmbH

„Dass radiologische Praxen und MVZ für Investoren interessant geworden sind, ist ebenso verständlich wie sinnvoll. Praxisinhaber oder Anteilseigner eines MVZ haben es heute schwer, die Praxis oder ihre Anteile an die nächste Generation zu übertragen. Die Verantwortung und das finanzielle Risiko einer eigenen Praxis wollen junge Radiologinnen und Radiologen heute nicht mehr tragen. Im Falle von MVZ ist die Übertragung von Anteilen gesellschaftsrechtlich gelinde gesagt unpraktisch. Hinzu kommt, dass in den Praxen häufig ein digitaler Investitionsstau herrscht. Das bedeutet: Obwohl radiologische Praxen per se schon sehr digital sind, fehlt es häufig an digitalen Vernetzungsmöglichkeiten mit der Außenwelt, also mit Patientinnen und Patienten, mit Zuweisern usw.  – und auf die kommt es in Zukunft an.

Unternehmen mit vielen Praxiseinheiten haben in Sachen Digitalisierung – die in erster Linie den Patientenkomfort erhöht und Prozesse optimiert – die Nase vorn. Wir können Dienste zentralisieren, Praxen als Mandanten innerhalb einer Software anlegen. Und natürlich müssen wir Konzepte und Ausschreibungen nur einmal entwickeln und können diese auf sehr viele Praxen anwenden. Nicht zu vergessen: Mit vielen Anwenderinnen und Anwendern im Rücken können wir auch andere Konditionen verhandeln und eigene Standards setzen. 
Das gilt für Funktionslösungen wie etwa Patientenportale ebenso wie für Datenschutz- und Informationssicherheitslösungen.  

Eine derartige Zentralisierung wird auch mit neuen Konzepten der IT-Systeme einhergehen: Mehr cloudbasierte Webdienste, weniger On-Premise. Weniger Lizenzen, mehr Concurrent-User-Modelle. Es tut sich also viel – und das ist gut so.“

Torsten Emmerich - Kath. St. Paulus Gesellschaft
"Dezentrale Versorgung braucht zentrale IT-Architektur."

Torsten Emmerich

IT und Kommunikationstechnik Verbundbereichsleitung Kath. St. Paulus Gesellschaft

„Eine stärkere Ambulantisierung und die Zuweisung von Leistungsgruppen unter den Kliniken, wie sie die Krankenhausreform vorsieht, setzt vor allem eins voraus: Einen zuverlässigen, schnellen und unkomplizierten Austausch medizinischer Informationen über Einrichtungsgrenzen hinweg. Und für diesen gibt es bisher keine gute Lösung. Die ePA hat sich weder in niedergelassenen Praxen noch in Krankenhäusern in einem Maß durchgesetzt, das dieser Anforderung gerecht werden könnte. Außerdem hat sich gezeigt, dass die Nutzung für Patientinnen und Patienten recht komplex ist. Die erhoffte Übertragung der Datenhoheit und die damit verbundene Selbstbemächtigung der Menschen hat definitiv nicht stattgefunden. Vielmehr sind Patientinnen und Patienten mit der Verantwortung oft überfordert. Dienste wie KIM gehen zwar in die richtige Richtung. Sie lassen jedoch die Patienten außen vor. Außerdem können mit KIM übertragene Daten nicht automatisch in die IT einer medizinischen Einrichtung eingebunden werden. 

Ein weiterer Stolperstein mit Blick auf den praktikablen Austausch medizinischer Informationen könnten die strengen Datenschutzrichtlinien sein. So sinnvoll ein hoher Schutz der sensiblen Daten ist, so sehr erschweren die aktuellen Anforderungen, dass die Patientinnen und Patienten ihre Daten beim Übergang von einer Behandlungseinheit in die nächste einfach mitnehmen können. Selbst innerhalb einer Organisation wie unserer bedarf es bei der Weitergabe zwischen MVZ und Krankenhaus immer der ausdrücklichen Zustimmung. Bei einer stärkeren Ambulantisierung und dadurch Fragmentierung des Gesundheitswesens ist dies sicher kein gangbarer Weg.

Sofern die Wege der Daten nicht mitgedacht werden und es keine praktikablen Ansätze, Medien und Regeln für deren Austausch gibt, wird die Ambulantisierung in dem gewünschten Maß aus Patientensicht eher nicht gut funktionieren.

Eine Folge der Ambulantisierung medizinischer Leistungen und der Zuweisung von Leistungsgruppen für die IT wird darüber hinaus sein, dass sich die Zahl der Subsysteme reduziert und wir eher wieder zu generalistischen, monolithischen Lösungen übergehen werden. Das wird eine logische Konsequenz aus der Zentralisierung von medizinischen Leistungen sein.“

Dr. Jens Arlinghaus - St. Johannes Hospital Dortmund
"Qualität muss gewährleistet bleiben."

Dr. Jens Arlinghaus

Leitender Oberarzt, Institut für Diagnostische und Interventionelle Radiologie, Katholische St. Paulus GmbH, St. Johannes Hospital Dortmund

„Inwiefern die stationäre Radiologie von den aktuellen und geplanten Änderungen, allen voran dem Krankenhausreformgesetz, betroffen sein wird, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Zunächst einmal ist es unwahrscheinlich, dass sich radiologische Leistungen gänzlich ambulantisieren lassen. Die Versorgung im Krankenhaus stellt andere Anforderungen. Wir haben es oft mit sehr kranken Menschen zu tun, stehen im regelmäßigen Austausch mit den Fachabteilungen, beziehen die Patientenakte regelmäßig mit ein, schauen uns die Laborwerte an und passen Art und Umfang der Untersuchung regelmäßig an die einzelne Fragestellung und Befundkonstellation an. Dieser enge interdisziplinäre Austausch und die Nähe zu den Patientinnen und Patienten lässt sich ambulant nicht so gut abbilden. Hinzu kommt, dass in Häusern wie dem unsrigen der Anteil an radiologischen Interventionen sehr hoch ist. Die damit verbundene Spezialisierung bei gleichzeitig hohen Fallzahlen und das entsprechende radiologische interventionelle und diagnostische Know-how sind ambulant nicht einfach so zu ersetzen.

Aber: Kommt die geplante Spezialisierung der Krankenhäuser und die striktere Unterteilung in Maximal- und Grundversorger, wird vermutlich nicht mehr in jedem Krankenhaus eine eigenständige radiologische Abteilung vorhanden sein. Den Trend hin zur Auslagerung der radiologischen Leistungen sehen wir ja bereits heute und dieser Trend wird sich in kleineren Krankenhäusern wohl fortsetzen. So ist es möglich, dass radiologische Abteilungen nur in größeren Kliniken bestehen bleiben werden, deren Versorgungsschwerpunkt dies erfordert.

Grundsätzlich ist gegen eine Auslagerung radiologischer Leistungen bei gleichbleibender Qualität auch nichts einzuwenden. Allerdings – und das sind unsere Erfahrungen – variiert die Qualität der Leistungen bei ambulanten Untersuchungen – von der Bild- bis zur Befunderstellung – enorm. Wir arbeiten mit niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen, die exzellente Bilder und Befunde liefern. Bei einem Teil der Patienten müssen wir die Untersuchungen allerdings wiederholen oder modifiziert durchführen, weil die Qualität und Art der ambulant durchgeführten Untersuchung nicht für eine Therapieplanung ausreichen." 

Umdenken statt umstellen

Restrukturierung des Gesundheitssystems: Umdenken statt umstellen

Was genau muss passieren, um auch in Zukunft flächendeckend eine gute medizinische Versorgung bieten zu können? Reicht es, an den Stellschrauben der bestehenden stationären und ambulanten Versorgung zu drehen? Eher nicht, meint Prof. Dr. Dirk Sauerland, Dekan der Fakultät für Wirtschaft und Gesellschaft der Universität Witten/Herdecke. Das Spezialgebiet des Volkswirtes sind die Institutionsökonomik (also die Untersuchung und Gestaltung von Anreizsystemen) und die Gesundheitspolitik, momentan beschäftigen ihn Evaluationen neuer Versorgungsformen. Sein Fazit mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen im Gesundheitswesen: Versorgung muss grundsätzlich neu gedacht, nicht nur angepasst werden. Im Interview mit VIEW erläutert er warum. Und vor allem: Inwiefern.

Veränderung will gelernt sein

Veränderung will gelernt sein

Mit der Zeit zu gehen bedeutet nicht, jedem Trend hinterherzulaufen. Diese Unterscheidung ist wichtig. Denn sie zieht die Linie zwischen solchen Unternehmen, die stabile, verlässliche Lösungen für langfristige Partnerschaften entwickeln wollen, und solchen, die lediglich auf die sogenannten Quickwins aus sind. Und die ihre Produktstrategie an Management-Buzzwords und potenziellen Fördergeldern ausrichten anstatt an der Steigerung der medizinischen Versorgungsqualität und der Entlastung der Akteure im Gesundheitswesen – inklusive der Patientinnen und Patienten.