„Der Entwurf ist höchst bedenklich“
Der Bund plant eine „Digitalagentur für Gesundheit“, die die bisherige gematik GmbH ablösen und die Digitalisierung des Gesundheitswesens beschleunigen soll. Doch der Gesetzentwurf lässt Vieles im Unklaren und verletzt marktwirtschaftliche Spielregeln, findet Melanie Wendling, Geschäftsführerin des Bundesverbandes Gesundheits-IT– bvitg e. V.
Frau Wendling, warum sieht der bvitg den Gesetzentwurf kritisch?
Einer der wichtigsten Kritikpunkte ist, dass das Gesetz die Aufgaben der Agentur nicht abschließend beschreibt. In vielen Punkten heißt es: „Das Nähere regelt eine Rechtsverordnung".
Der Entwurf spricht von drei „unterschiedlichen Rollen“...
Aber eine wirkliche Ende-zu-Ende-Verantwortung hat die neue Agentur auch nicht. Stattdessen werden ihr Aufgaben zugewiesen, die ganz klar der Industrie vorbehalten sein müssen, nämlich die Entwicklung von Anwendungen und Komponenten für die Telematikinfrastruktur. Das wäre so, als würde der TÜV Autos zulassen und gleichzeitig bauen. Das gibt es in keinem anderen Wirtschaftszweig und ist außerdem verfassungsrechtlich höchst bedenklich.
Spricht daraus ein Misstrauen der Industrie gegenüber?
Tatsächlich scheint das Bundesgesundheitsministerium zu glauben, der Staat könnte es besser, weil man das in den nordeuropäischen Ländern oder Israel so gesehen hat. Was dabei verkannt wird, ist, dass es sich dort um staatliche Gesundheitssysteme handelt. Das einzige System, das dem deutschen ähnelt, ist das österreichische – und dort funktioniert es gemeinschaftlich, indem man alle Akteure an einen Tisch holt. So hätten wir uns das in Deutschland gewünscht. Das Fatale ist: Wir waren ja auf diesem Weg. Auf der Arbeitsebene gab und gibt es zwischen dem bvitg und der gematik einen sehr, sehr guten, konstruktiven Austausch.
Ist die Industrie denn ganz unschuldig daran?
Selbstkritisch muss sich die Industrie die Frage stellen, ob sie in den vergangenen 20 Jahren immer interoperabel und marktoffen gehandelt hat. Auf der anderen Seite gab es durch die verschiedenen Vorgaben überhaupt keine einheitliche Linie. Warum soll man es dann bestrafen, wenn die Industrie Wege sucht, um wenigstens bei einzelnen Komponenten und Anwendungen Innovationen voranzubringen?
Apropos bestrafen: Der Gesetzesentwurf sieht Sanktionsmöglichkeiten vor. Was könnte auf die Hersteller zukommen?
Zunächst würde ich mir an Stelle der GKV diese Fragen stellen, denn sie muss die Agentur ja finanzieren. Ich könnte mir vorstellen, dass Teile des Gesetzes zu einer Klagewelle führen würden. Ich hoffe, dass über die Sanktionen das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Aber vielleicht werden wir ja auch von der Zeit überholt.
Auf EU-Ebene wird der Europäische Rat in Kürze den European Health Data Space (EHDS) beschließen. Ist Deutschland darauf vorbereitet?
Wir würden uns wünschen, dass Deutschland – gerade was Anwendungsszenarien und Entwicklungslösungen angeht – den Blick öffnet. Eigene nationale Lösungen werden jedenfalls nicht funktionieren. Was wir brauchen, sind Standards auf europäischer Ebene.
Der bvitg
Gemeinsam mit seinen rund 120 Mitgliedsunternehmen arbeitet der Bundesverband Gesundheits-IT – bvitg e.V. daran, die Gesundheits-IT für alle Versorgungsbereiche zu etablieren, um so die Gesundheitsversorgung der Menschen in Deutschland nachhaltig zu verbessern. Der bvitg ist Mitglied der Standardisierungsinitiativen HL7 und Integrating the Healthcare Enterprise (IHE) sowie Veranstalter der DMEA, Europas größtem Event der Gesundheits-IT.