Teure Versäumnisse
34 Milliarden Euro: So hoch beziffert die Studie „Digitalisierung in deutschen Krankenhäusern“ von McKinsey & Company das Einsparpotenzial durch die Digitalisierung im Gesundheitswesen. Der größte Posten mit mehr als 16 Milliarden Euro entfällt dabei auf die Krankenhäuser – allein eine einheitliche elektronische Patientenakte könnte 6,4 Milliarden Euro einsparen. Diese Zahlen stimmen ebenso nachdenklich wie der von den Befragten angegebene wichtigste Grund für das Digitalisierungsdefizit: mangelnde Kompatibilität und Interoperabilität der IT-Systeme.
Digitalisierung in Krankenhäusern
Dass dieser Punkt noch vor den unzureichenden Finanzierungsmöglichkeiten und einer fehlenden Standardisierung der Prozesse genannt wurde, spiegelt das Dilemma der Verantwortlichen in Krankenhäusern wider: Der Wille zur Digitalisierung ist da, die Frage nach der richtigen Technologie und Strategie jedoch weiter offen. Gründe dafür gibt es einige, mit der wichtigste dürfte der Boom proprietärer, monolithischer Systeme sein, der die IT-Landschaft in Krankenhäusern lange Zeit prägte und der von Teilen der Industrie forciert wurde. Andere Ursachen mögen in der verzögerten, zögerlichen und höchstens punktuellen Umsetzung der Telematikinfrastruktur liegen. Wenn weder Krankenhäuser noch Systemanbieter wissen, was wann wie umgesetzt wird, ist eine langfristige Digitalisierungsstrategie eher schwierig zu planen und umzusetzen.
So digital sind deutsche Krankenhäuser
Welche Gründe der Einzelne auch anführen mag, Fakt ist, dass die Gesundheitswirtschaft anderen Industrien genauso hinterherhinkt wie den technologischen Möglichkeiten und den tatsächlichen Bedarfen. „Dieser Umstand hat uns am meisten irritiert und war ein Grund für die Studie: Trotz vorhandener Technologien und einem realen finanziellen Druck wird die Digitalisierung als Hebel für mehr Effizienz und Qualität im Gesundheitswesen weitaus weniger als in anderen Branchen betätigt. Wirtschaftlich betrachtet macht das eigentlich keinen Sinn“, beschreibt Dr. Manuel Möller, Partner bei McKinsey & Company und Mitautor der Studie, die Motivation der Berater. Auf der Suche nach Gründen für diesen Widerspruch wurden einerseits Geschäftsführer sowie ärztliche und kaufmännische Direktoren deutscher Kliniken unterschiedlicher Trägerschaften nach dem Stand der Digitalisierung in ihren Häusern befragt. Andererseits wurden über 500 wissenschaftliche Studien ausgewertet, um herauszufinden, wie hoch das Einsparpotenzial überhaupt ist und an welchen Stellen es sich versteckt.
„Für die Ermittlung des Einsparpotenzials von 34 Mrd. Euro wertete McKinsey gut 500 wissenschaftliche Studien aus.“
Dr. Manuel Möller
Partner bei McKinsey & Company und Mitautor der Studie „Digitalisierung in deutschen Krankenhäusern“
„Eine erste Erkenntnis war, dass der Grad der Digitalisierung eine Frage der Größe der Institution ist. Größere Einheiten wie Krankenhausketten nutzen den Digitalisierungshebel bereits stärker und profitieren von Teileffekten“, so Manuel Möller. Insgesamt ergibt sich in Sachen Digitalisierung deutscher Krankenhäuser folgendes Bild: Bei der Erstellung von Dienst- und Schichtplänen sowie der Essensbestellung gibt es den höchsten Digitalisierungsgrad. Bereiche wie die digitale Patientenakte, die Einholung von Zweitmeinungen oder die Medikamentenverschreibung und -planung rangieren im mittleren und hinteren Bereich.
Das größte Einsparpotenzial liegt im Wechsel von papierbasierten zu digitalen Daten
„Dabei sind gerade diese Aspekte wirtschaftlich gesehen die interessantesten. Denn der Wechsel von papierbasierten zu digitalen Daten – zu denen die digitale Akte, das E-Rezept oder die krankenhausinterne Kommunikation zählt – geht mit einem Einsparpotenzial von rund 9 Milliarden Euro einher. Das sind immerhin 26 Prozent der Gesamtsumme von 34 Milliarden Euro für den gesamten Gesundheitsmarkt.“ Hinzu kommen noch einmal rund 6 Milliarden Euro, die durch eine gesteigerte Transparenz und bessere Benchmarking-Möglichkeiten entstehen. In der Praxis bedeutet das: Sind Daten verfügbar, wird Leistung transparent – was automatisch einen Effekt auf die Qualität hat. Außerdem dienen die Daten dazu, Rückschlüsse zu ziehen, Muster zu erkennen und so Lösungen für eine verbesserte Versorgung zu liefern. Der McKinsey-Berater nennt ein prägnantes Beispiel hierfür: „In den USA verfügen KIS-Hersteller über tausende Langzeitdaten aus den Patientenakten. Aus diesen lässt sich zum Beispiel herauslesen, in welchem Winkel das Krankenbett stehen sollte, um einen Patienten mit Lungenentzündung optimal zu lagern. Solche Erkenntnisse wandern dann als Handlungsempfehlung in das KIS zurück – mit dem Ergebnis, dass sich die Liegezeiten bei Lungenentzündung reduzieren.“
Zeit und Technologien sind reif für den großen Wurf
Solche granularen Erkenntnisse können in Deutschland aufgrund restriktiver Datenschutzbestimmungen freilich nicht in die IT-Systeme einfließen. Trotzdem tut sich gerade extrem viel, was die Bergung der finanziellen und qualitativen Vorteile der digitalen Daten erleichtert. Zum einen müssen Krankenkassen ab 2021 elektronische Patientenakten anbieten (§ 291a SGB V). Die Komponenten dieser Akten werden von der gematik spezifiziert – was eine gewisse Verbindlichkeit verspricht. Zum anderen gibt es heute bereits geeignete IT-Systeme, die eine Konsolidierung medizinischer Daten basierend auf Standards erlauben und damit die Grundlage für digitale Akten schaffen – unabhängig von den technischen Spezifikationen, womit die notwendige Interoperabilität in der Praxis hergestellt werden kann. Die Voraussetzungen sind also gut, um Licht in das Daten-Dschungel zu bringen und die Digitalisierung als wirtschaftlichen Faktor im Gesundheitswesen zu etablieren.
Eher tiefgestapelt: So kommen 34 Milliarden Euro zusammen
Für die Ermittlung des Einsparpotenzials von 34 Milliarden Euro wertete McKinsey gut 500 wissenschaftliche Studien aus, die sich mit den finanziellen Vorteilen bestimmter digitaler Technologien beschäftigten. Dazu zählten zum Beispiel Studien, die sich mit der Zeitersparnis für Pflegekräfte durch eine flächendeckende elektronische Patientenakte beschäftigten. Oder solche, die die Auswirkungen auf die Hospitalisierungsraten aufgrund elektronischer Medikationsverfahren ermittelten. Die Ergebnisse der Auswertungen wurden an die Spezifika des deutschen Gesundheitswesens angepasst, zum Beispiel an die DRG Vergütung, und um die Daten von Doppelzählungen bereinigt. Die komplette Studie finden Sie im Publikationsbereich auf der McKinsey-Website.
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