Was die Radiologie von der KI erwarten darf

  • Was die Radiologie von der KI erwarten darf

Eine Diskussion über künstliche Intelligenz (KI) in der Radiologie löst heute weder übertrieben euphorische noch apokalyptische Gefühle aus. Das ist gut. Denn jetzt, da sich die Gemüter beruhigt und die Debatten versachlicht haben, kann endlich über die wahren Potenziale und Limitationen der KI gesprochen werden. Zum Beispiel mit Prof. Dr. Elmar Kotter, Präsident der European Society of Medical Imaging Informatics und Chair des „eHealth and Informatics Subcommittee“ der European Society of Radiology.

VIEW: Herr Prof. Kotter, was verstehen Sie unter KI in der Radiologie?

Elmar Kotter: Das ist mit die schwierigste Frage des gesamten Themenkomplexes: Ich glaube, die Antwort darauf entwickelt sich stetig weiter. Allgemein würde ich bei KI vor allem zwischen einer sehr eng gefassten Definition und einer weiten Begriffsauslegung unterscheiden: „narrow“ KI für spezialisierte Aufgaben wie eine Frakturerkennung und „broad“ oder „general“ KI. In der Radiologie bewegen wir uns aktuell in dem eng umrissenen Rahmen. Das bedeutet, dass die Systeme darauf trainiert sind, eine spezifische Aufgabe zu erledigen, zum Beispiel das Erkennen von Pathologien oder von Lungenrundherden. Ich verwende gerne den Begriff „Augmented Intelligence“ für Radiologinnen und Radiologen. Die KI hilft also dabei, die Masse an Bildern, mit der wir uns konfrontiert sehen, zu bewältigen.

Was umfasst die weitgehende Definition?

Einen entscheidenden Schritt, den die KI in der Radiologie in den nächsten Jahren gehen muss, ist die Einbindung von klinischen Informationen. Wenn wir zusätzlich zu den Bildern auch Laborwerte oder weitere krankheitsbezogene Daten in die KI einbeziehen und zu den Bildern in Bezug setzen, können die Aufgaben schnell komplexer werden. Hierfür gibt es allerdings noch keine „Out-of-the-Box“-Netzwerke, um entsprechende Infrastrukturen mit nicht-bildlichen Informationen zu bauen. Darum konzentrieren sich im Moment Hersteller und Anwendende auf die rein bildbezogenen KI-Anwendungen, hier lassen sich schnell Ergebnisse erzielen und publizieren.

Ein bisschen mehr als eine reine Bildauswertung kann die KI in der Radiologie heute aber schon ...

Natürlich kann Software heute auch eine Priorisierung der Worklists bewirken. Es gibt Systeme, die unterstützen uns bei der Differentialdiagnose oder optimieren die Protokolle an den Geräten. Aber im Wesentlichen geht es doch um Anwendungen etwa zur Frakturbestimmung, zur Knochenalterbestimmung oder um das Erkennen und Vermessen von neuroradiologischen Parametern. Damit ist das Potenzial der KI sicher nicht erschöpft, aber dem gegenüber stehen eben noch große Herausforderungen. Die Einbindung klinischer Information ist eine davon. Eine andere ist die Integration der KI in den radiologischen Workflow. Institutionen wie IHE arbeiten zwar im Hintergrund an standardisierten Vorgehensweisen, aktuell gibt es hier aber kein einheitliches Rezept.
Was wir bei der ganzen Diskussion auch nicht vergessen dürfen, ist das Vertrauen der Radiologinnen und Radiologen in die Technologie. Wir müssen verstehen, wie KI funktioniert. Was sie kann und vor allem auch, was sie nicht kann.
Das meiner Meinung nach größte Problem mit Blick auf die KI-Anwendungen ist jedoch die Finanzierung.

Lässt sich durch den Einsatz von KI denn nicht Zeit sparen und die Versorgungsqualität steigern, so dass die Erlösstruktur optimiert wird?

KI hilft uns dabei, die Flut der Daten, die durch steigende Fallzahlen und die steigende Zahl der Bilder pro Untersuchung entsteht, überhaupt noch zu bewältigen. Außerdem entlastet sie uns bei stupiden Arbeiten wie dem Erkennen und Zählen von Lungenrundherden. Deswegen können wir aber nicht auf Radiologen verzichten und direkte Einsparungen generieren. Und bisher können wir eine Diagnose, die mittels KI verlässlicher oder schneller gestellt wurde, nicht anders abrechnen. Aktuell fehlt es also an einem Finanzierungsmodell für den Einsatz von KI. Das ist in den USA mittlerweile ein bisschen anders.

Was genau wünschen und erhoffen Sie sich von der KI in Ihrem Fach?

Eine sehr wichtige Aufgabe der KI wird darin bestehen, eine Art Sicherheitsnetz für die Radiologinnen und Radiologen zu weben. Wir haben jetzt schon eine enorme Arbeitsbelastung und die wird weiter steigen – und mit ihr das Risiko für Fehler. Indem KI repetitive und monotone Aufgaben übernimmt, kann sie uns Radiologen entlasten und die Versorgungsqualität erhöhen.
Einen weiteren Vorteil sehe ich darin, dass bestimmte Untersuchungen durch die KI leichter quantifizierbar und damit objektivierbar werden. Nehmen wir noch einmal das Beispiel der Lungenrundherde: Bei einer Vielzahl von Herden wird der Radiologe für die Verlaufskontrolle nur einige herausgreifen, vermessen und beurteilen. Die KI kann alle Rundherde bestimmen und so das punktuell subjektive Bild durch ein umfassend objektives ersetzen.
Und schließlich ist es momentan noch so, dass wir viele Informationen, die wir heute tagtäglich erheben, gar nicht strukturiert auswerten. Das ist ein echtes Datengrab. Wir konzentrieren uns auf bestimmte Pathologien und lassen andere Daten einfach links liegen. Zum Beispiel eine systematische Messung des Aortendurchmessers oder der Knochen- oder Leberdichte. Diese Werte würden ein gutes Frühwarnsystem für Erkrankungen darstellen, aber wir können es gar nicht leisten, die Werte strukturiert zu erfassen. Die KI könnte das.

Inwiefern wird sich die Arbeitsweise der Radiologinnen und Radiologen durch den Einsatz der KI wie Sie ihn sich wünschen ändern?

Grundsätzlich habe ich keine Sorge, dass der Radiologie die Arbeit ausgehen wird. Wenn eine Software eine Aufgabe erledigen kann, dann soll sie es machen. Dadurch wird der Arbeitsalltag in der Radiologie vermutlich anders aussehen, denn mit der KI haben wir einen potenziellen Partner an unserer Seite, der – wenn wir ihn richtig verstehen und seine Stärken und Schwächen kennen – unsere Arbeit sehr sinnvoll ergänzen und unsere Schwachstellen kompensieren kann. Damit dieses Versprechen eingelöst wird, müssen wir realistische Erwartungshaltungen entwickeln und die KI nicht mit Heilsversprechen überfrachten. Wenn uns das gelingt, haben wir die einmalige Chance, die Radiologie als Leader des klinischen Informationsmanagements in den Kliniken zu etablieren. Von den Medizinern sind wir diejenigen, die am besten wissen, wie mit Informationen umzugehen ist. Und wir haben die meiste Erfahrung mit KI. Darum sehe ich gute Chancen dafür, unserem Fach eine noch größere Relevanz zu verschaffen und es ins Zentrum der Medizin zu stellen.

Prof. Dr. Elmar Kotter, Präsident der European Society of Medical Imaging Informatics und Chair des „eHealth and Informatics Subcommittee“ der European Society of Radiology
„Die KI hilft also dabei, die Masse an Bildern, mit der wir uns konfrontiert sehen, zu bewältigen.“

Prof. Dr. Elmar Kotter

Präsident der European Society of Medical Imaging Informatics und Chair des „eHealth and Informatics Subcommittee“ der European Society of Radiology